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Die Seite

Jesel blickte zur Seite.

Dann drehte er ganz gemächlich seinen ganzen Körper zu eben derselben Seite und – sie verschwand.

Er wiederholte den Vorgang einige Male, mal etwas gemächlicher, mal ganz abrupt, mal nur etwas abrupt, dann wieder so gemächlich, dass er es selbst kaum merkte.

Aber – dasselbe Ergebnis.

Langsam, ganz langsam wurde Jesel stutzig.

Es war ein Phänomen.

Wie kann etwas verschwinden und als etwas anderes wieder auftauchen, nur wenn man sich diesem Etwas zuwandte?

Aber – und das war entscheidend: Es ging ihm nicht um die Ergründung dieser Frage und dieses Begriffes "Seite" oder gar um die Entschlüsselung eines Gedichtes wie jenes berühmten:

"Sie erblickte an ihrer Seite eine rosarote Blume,

sie drehte sich zu ihr hin – und sie verschwand."

(Wer verschwand?) Nein, es ging ihm darum, dass Blas gesagt hatte, er solle schauen, was neben der Seite liege, wenn er sie von vorne anblickt.

Oder war das doch nur so eine dumme Idee von ihm, eine von diesen Ideen, die er seit kurzem vorzubringen pflegte, seit er dieses Buch gelesen hatte.

Es hieß: "Alle Lehrer lügen", sagte der Lehrer.

Paradoxa hin, Paradoxa her, dachte sich Jesel, wie soll das denn bloß funktionieren?

Er überlegte eine Weile, steckte seine rechte Hand in seine linke Tasche und überlegte noch eine weitere Weile. Die Seite...wessen Seite? Seine? Welche?

Nein, Blas hatte gesagt: die Seite der Lage, die Seite des Geschehens.

Also ein Geschehen, z. B. dort vor mir, dachte Jesel, dann dort, rechts daneben – die Seite des Geschehens, der Rand der Situation, die Seite der Lage – und jetzt: dorthin gucken – genau hingucken, auf die Seite, den Rand – auf das scheinbar Unwesentliche? – und nun: was liegt daneben? Nein, nicht zurück zur Lage, sondern daneben, auf der anderen Seite.

Ach ja, dachte Jesel, ich verstehe.

Und tatsächlich: Jesel hatte verstanden.

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